Nieder mit der neuen Rechtschreibung!
Alle Rechtschreibreformen seit Luther haben die geschriebene Sprache der gesprochenen angenähert. Sprach man im Mittelalter deutsch und schrieb Latein, so wurde nach Luther auch deutsch geschrieben, wenngleich mit lateinischen Buchstaben. Diese wurden nach und nach dem Deutschen besser angepaßt, indem etwa ä, ö, ü, ß entstanden, indem die stummen h entfielen usw. Man kann zusammengefaßt formulieren: Die Schriftsprache wurde vereinheitlicht, vereinfacht und demokratisiert.
Das ging so bis 1990. War der Zeitraum vom Mittelalter bis 1990 im Groben betrachtet in Europa ein permanenter Aufstiegsprozeß, so sollte es Lesern auf Freidenker-Seiten klar sein, daß mit dem Wüten der Konterrevolution der Niedergang auf allen denkbaren Gebieten einsetzte. Prompt ging die Rechtschreibreform von 1996/2006 den entgegengesetzten Weg aller bisherigen Reformen der deutschen Rechtschreibung.
Weil die Heuchelei dank den USA exzessiv erweitert wurde, wurden als Ziele dieser Reform allen Ernstes Vereinheitlichung und Vereinfachung angegeben.
Daraus ist dann etwa folgendes geworden: Wurde vorher erweiterter Infinitiv mit zu durch Komma abgetrennt (eine Regel), so hängt das heute vom Verb ab. Manche Verben erfordern die Abtrennung durch Komma, manche verbieten es, manche lassen Wahlmöglichkeit. Sind drei Regeln mindestens, aber eigentlich so viele Regeln, wie es Verben gibt. Vereinfachung hätte jedoch bedeutet, die Anzahl der Regeln zu verringern.
Vereinheitlichung wiederum soll sicherstellen, daß die Schriftsprache nicht in verschiedene Schulen zerfällt, die sich über kurz oder lang zu eigenen Kodierungen verselbständigen. Wo Wahlmöglichkeiten künstlich eingeführt werden, wie eben bei der Abtrennung des erweiterten Infinitivs mit zu durch Komma, da wird die Einheitlichkeit mutwillig untergraben.
Dies war nur ein Beispiel. Der Verfasser dieser Zeilen, der zu seinem Mißvergnügen gezwungen war, sich detailliert in die Regeln der Reform einzuarbeiten, versichert jedoch, daß man Reformschritt für Reformschritt in dieser Art durchgehen könnte, um in 98% aller Fälle zum selben Ergebnis zu kommen.
In Wahrheit ist die 1996/2006-Rechtschreibreform eine Maßnahme in Richtung Zerstörung der deutschen Sprache. Dabei spielt es nicht die Rolle, aus welchem subjektiven Motiven die Mitglieder der Reformkommission gehandelt haben mögen.
Entscheidend ist hier der Zeitgeist, und der ist allemal der Herren eigener Geist, also imperialistischer Geist, beeinflußt von der globalen Dominanz der USA.
Um ein Mißverständnis zu vermeiden: Die Reform ist nicht grausam, weil sie etwas ändert, sondern weil die Richtung der Veränderung genau verkehrt ist. Notwendig wäre es, im Deutschen mal einen Buchstaben für den mit „sch“ umschriebenen Laut zu schaffen usw. Das wäre sicherlich die ersten Tage sehr gewöhnungsbedürftig. Wie der Verfasser aus dem Erlernen der serbokroatischen Sprache folgert, in der die Regel „sprich, wie Du schreibst, und schreib, wie Du sprichst“ seit dem 19. Jahrhundert und den Reformen von Vuk Stefanovic Karadzic und Dositej Obradovic gilt, würde man sich daran sehr schnell gewöhnen, insbesondere viel schneller als alle denken. Und warum? Genau weil solche Reformen in die richtige Richtung gingen und eine Vereinfachung bedeuteten. Jedem Phonem sein Graphem, so sollte die Parole echten Fortschritts in der Rechtschreibung lauten.
Daß die Konterreformer hingegen bewußt Mißverständnisse wollen, zeigt sich daran, daß sie dem Alptraum aus George Orwells „1984“ folgend Worte verbieten: Dem Begriff des Zusammenschreibens etwa soll man künftig schriftlich keinen Ausdruck mehr verleihen dürfen. „Zusammenschreiben“ brandmarken diese Zensoren als falsche Schreibweise. Richtig sei „zusammen schreiben“, obwohl das etwas vollkommen anderes ist. Auch hier soll die Niedertracht nur erwähnt und nicht noch an dutzenden Fallbeispielen zelebriert werden.
Diesem Zerfallsprozeß der deutschen Sprache haben sich die positiven Kräfte natürlich entgegengestellt: Von „Die Rote Fahne“ bis „Ketzerbriefe“, vom „Rotfuchs“ bis zur „Titanic“, von Peter Hacks bis Christoph Dieckmann, vom „Jenaer Jahrbuch für Technikgeschichte“ bis zur „junge Welt“ haben sie weiter die DDR-Rechtschreibung benutzt. Logisch, denn man merkt ja schon am Reformzeitpunkt, daß die Änderungen vom Feind kommen.
Überhaupt schreibt die Faschistentagespresse durchgehend in neuer Rechtschreibung.
Und da sind wir nun endlich beim Anlaß für diesen kurzen Aufsatz: Seit dem 4.10.2014 schreibt die „junge Welt“ „bisschen“, „Stuss“ und „muss“. Ist die Anpassung der jW an den Mainstream in Formfragen ein böser Vorbote hinsichtlich ihrer Anpassung an den Mainstream in inhaltlichen Fragen?
Das fragt sich
Witold Fischer